Drei Jahre KoopWohl neigen sich dem Ende entgegen. Aus diesem Anlass haben wir alle unsere Praxispartner*innen noch einmal eingeladen, um gemeinsam auf das Erreichte zu blicken und auf die gelungene Zusammenarbeit anzustoßen.
Die Veranstaltung fand im Kiezraum in Berlin-Kreuzberg am 18. November 2022 statt. Ein Raum, der durch den im Zuge des Kooperationsprozesses Rathausblock, den wir im Themenfeld Stadtentwicklung/ Wohnen untersuchen, neu saniert und für Initiativen zugänglich gemacht wurde. Auf der Veranstaltung stand folgende Frage im Vordergrund: Was haben wir erreicht und wie geht es weiter?
Projektleiterin Laura Calbet i Elias begrüßte, Florian Schmidt, Bezirksstadtrat von Berlin Friedrichshain-Kreuzberg und von Anfang an Fürsprecher unseres aktivistischen Projektansatzes, hielt das Grußwort. Er wünsche sich mehr Forschung dieser Art, die Wissenschaft und Praxis miteinander verzahnt.
Meilensteine und Erkenntnisse des Projekts
Zunächst blickte Laura Calbet i Elias für uns auf einige zentrale Ergebnisse zurück. Begonnen haben wir 2020 mit unserer Grundlagenarbeit, in der wir die langen Pandemiemonate über an unseren Schreibtischen und in Videokonferenzen die Eckpfeiler unseres Forschungsprojekts zu einem kohärenten Theorieverständnis zusammengefügt haben. Das Ergebnis, unser erstes Working Paper, vernetzt die Begriffe Wohlfahrtsregime, Governance, Teilhabe, Gemeinwohl, Legitimation, Soziale Bewegungen/ Zivilgesellschaft und Ko-Produktion miteinander. In aller Kürze: Wohlfahrtsregime stellen Teilhabe her und legitimieren die kapitalistisch-demokratische Gesellschaftsordnung dadurch. Teilhabe wird in Governance-Netzwerken und –prozessen hergestellt, in denen unter anderem Soziale Bewegungen/ Zivilgesellschaft unter Berufung auf das Gemeinwohl Teilhaberechte postulieren. Die Governance-Prozesse, die wir im Forschungsprojekt analyisiert und begleitet haben, können wegen ihrer engen Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik auch Koproduktionen genannt werden.
Abbildung 1: Zentrale Begriffe und ihre Verbindungen zueinander.
Davon ausgehend haben wir Teilhabe und Ausschlüsse in den Wohlfahrtsregimen unserer drei Politikfelder analysiert. Im Ergebnis stehen zwei weitere Working Paper in den Bereichen Umwelt/ Ernährung sowie Migration/ Gesundheit sowie eine Publikation im Politikfeld Wohnen/ Stadtentwicklung in der wissenschaftlichen Zeitschrift für Gemeinwirtschaft und Gemeinwohl. Je eine Veröffentlichung im Themenfeld Umwelt/ Ernährung und im Themenfeld Migration/ Gesundheit sind bereits bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift bzw. einem Sammelband eingereicht.In den drei untersuchten Fallbeispielen konnten wir nachweisen, welche Bedeutung der lokalen Ebene und zivilgesellschaftlichen Akteuren für die sozialökologische Transformation zukommt (Bottom-linked-Governance). Die zivilgesellschaftlichen Akteure waren im Sinne einer Ko-Produktion an allen Prozessschritten beteiligt, d.h. der Problemdefinition, dem Agenda-Setting, der Formulierung von Politiken bzw. Maßnahmen und ihrer Implementation. Die Akteure unserer drei Fallbeispiele sind in die Kooperationen eingetreten, weil sich Ziele und Ansprüche überschnitten und /oder weil die Zusammenarbeit einen Legitimationsgewinn versprach, weil Ko-Produktionen mit der Zivilgesellschaft Wissen und Ressourcen bündeln oder auch ehrenamtliche Versorgungsmechanismen überwinden können. Als Herausforderungen hat sich übereinstimmend die Zeit- und Ressourcenintensität herausgestellt sowie die notwendige Kontinuität, die eine Zusammenarbeit vor allem für ehrenamtliche Akteure erschwert genauso wie Personalwechsel auf Seiten der Verwaltung. Ferner werden unterschiedliche Handlungslogiken wie Rhythmen und Formen der Entscheidungsfindung als Herausforderung auf beiden Seiten wahrgenommen. Eine große Herausforderung war und ist es, eine Verfestigungs- bzw. Institutionalisierungsstrategie zu finden und zu implementieren, die über den Modellprojekt-Charakter hinausweist. Universalistische Teilhabe-Forderungen prägen die Zusammenarbeit, werden jedoch (noch) nicht unmittelbar oder vollumfänglich umgesetzt (s. Abbildung 2).
Abbildung 2: Ko-produzierte Teilhabe: Outcomes.
Auf der praktischen Seite des Forschungsprojekts können wir auf drei Jahre Begleitung und Unterstützung dreier Kooperationen zurückblicken. Runde Tische, Werkstätten, Expert*innenworkshops und finanzierte Stellen haben die Kooperationen gestärkt und teilweise erst angeschoben (Politikfeld Ernährung/ Umwelt). Aus der eigenen Blase heraustreten und über den Tellerrand hinausschauen konnten Praxispartner*innen und Forschungsteam auf einer Reise nach Barcelona im Juni 2022, bei der Teilnehmende aller drei Politikfelder Impulse für ihre eigene Arbeit in Berlin und Thüringen mitnehmen konnten.
Im Anschluss haben erst Lisa Vollmer und Laura Bein (als Ersatz für die erkrankte Theresa Zanders) den Handlungsleitfaden des Themenfelds Migration/ Gesundheit vorgestellt, bevor Susanna Raab selbigen für das Themenfeld Ernährung/ Umwelt präsentierte.
Politikfeld Migration/ Gesundheit
Im Themenfeld Migration/ Gesundheit blickten wir auf vier Runde Tische der Praxispartner*innen (Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie und der Anonyme Krankeschein Thüringen) zwischen 2020 und 2022 sowie sechs Workshops mit sieben vergleichbaren Projekten aus anderen Kommunen und Bundesländern zurück, aus denen ein Handlungsleitfaden entstanden ist, der andere interessierte Gruppen und Verwaltungen bestärken und unterstützen soll, einen Anonymen Behandlungsschein in ihrer Region einzuführen. Er listet Argumente und Tipps für die Umsetzung auf und stellt die Vor- und Nachteile verschiedener Modelle heraus. 500 Handlungsleitfäden sind gedruckt und werden sukzessive in ganz Deutschland verbreitet. Exemplare können als Print bestellt oder online eingesehen werden. Als motivierenden Schlusspunkt führte Robert Limmer von Condrobs e.V. in die Arbeit der Clearingstelle in München ein und betonte vor allem dessen Verstetigung.
Politikfeld Ernährung/ Umwelt
Susanna Raab blickte in ihrem Rückblick unter anderem auf die erfolgreiche Etablierung mehrerer LebensMittelPunkte im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Unter Einbindung mehrerer Nachbarschaftshäuser und Stadtteilzentren aus dem Bezirk ist es den Praxispartner*innen, dem Ernährungsrat Berlin und dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, gelungen, das Thema Ernährung nachhaltig in bestehenden sozialen Infrastrukturen zu verankern. Teil der neu etablierten LebensMittelPunkte bilden konkrete Angebote wie Verteilstationen für gerettetes Essen, sogenannte Depots, sowie gemeinsame Kochangebote beispielsweise ein interkulturelles Fastenbrechen. Das Veranstaltungs-Highlight der Kooperation war das LebensMittelPunkt-Festival im Bezirk, welches zwischen Mitte September und Anfang Oktober 2022 stattfand.
In drei Runden Tischen während der Projektlaufzeit wurden im Verlauf der Kooperation Ziele definiert, Beteiligungsformate erarbeitet sowie die Vision der LebensMittelPunkte gemeinsam erarbeitet, reflektiert und schließlich die gemeinsame Zusammenarbeit für die Erstellung des Handlungsleitfadens ausgewertet. Gewonnene Erkenntnisse aus dem vom Forschungsprojekt angestoßenen Kooperationsprozess sind unter anderem eine gemeinsame Zielbestimmung an den Prozessbeginn zu setzen, um einen offenen partizipativen Prozess ins Rollen zu bringen, bestehende institutionelle Strukturen wie Nachbarschafts- und Stadtteilzentren frühzeitig einzubeziehen sowie bezahlte Stellen auf beiden Kooperationsseiten dafür zu schaffen.
Der Abschluss im Themenfeld Wohnen/ Stadtentwicklung folgt aufgrund von Elternzeit am Anfang des Jahres 2023.
Feldübergreifender Handlungsleitfaden
In einem feldübergreifenden Handlungsleitfaden fassen wir Erkenntnisse für gelingende Kooperationen, die wir aus allen drei Fallbeispielen herauskristallisiert haben, zusammen. Diesen stellte Projektleiterin Lisa Vollmer vor. Die anschließenden Diskussionsformate erweiterten dessen Inhalte und vertieften die Reflexion über die eigene Kooperation.
Abbildung 3: Gliederung und Schlagworte des feldübergreifenden Handlungsleitfadens.
Schlaglichter aus der anschließenden Diskussion:
„Meine These ist eine Provokation: Die Zivilgesellschaft sieht und fordert die Verwaltung zu wenig als gestaltenden Akteur, der qua demokratischem Auftrag diese Rolle innehat. Und auch die Verwaltung sieht sich zu selten in dieser Rolle.“
„Die Verwaltung sollte die Haltung annehmen, zum wohlwollenden ‚enabler‘ zu werden. Im Sinne von: ‚Oh, das klingt schwierig, aber wir gucken mal, was möglich ist.‘“
„Um besser auf Krisen reagieren zu können, braucht es ein ziemliches Querschnittsdenken in der Verwaltung. Das haben wir auch beim Ernährungsthema gesehen. Ich glaube, das wird in Zukunft auch noch mehr kommen.“
„Gegenüber der Verwaltung eine klare Organisationsstruktur zu haben und feste Ansprechpartner ist wichtig. Das ist auch für die Verwaltung voll störend. Am Anfang ein transparentes Engagement und Orga zu machen, auch die Verwaltung mehr informieren, was wir gerade machen.“
„In der Kooperation kann ich sagen: Hier ist der Anfang angstbesetzt gewesen, hier kommt die kämpfende Zivilgesellschaft und auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass ich auch Vorurteile hatte, aber wenn man die Leute in den Blick nimmt, ändert sich das auch.“
„Das nächste Mal würde ich den zivilgesellschaftlichen Initiativen sagen: Kämpft um mehr Geld, weil ihr seid eh im Nachteil, deswegen braucht ihr eine höhere Unterstützung.“
„So gemeinsame Lernformate entwickeln, pflegen und machen kann ich empfehlen.
Lernwerkstätten zusammen zu machen zur Frage, wie man zusammenarbeitet.“
Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich für das aktive Mitwirken bei der Entwicklung des feldübergreifenden, aber auch bei den feldspezifischen Handlungsleitfäden. Wir greifen gern den Wunsch der Teilnehmenden auf, Wissen über Kooperationsprozesse zu speichern und weiterzugeben und freuen uns in diesem Sinne darauf, Anfang des Jahres 2023 den feldübergreifenden Handlungsleitfaden sowie den Handlungsleitfaden Wohnen zu präsentieren.